Weniger ist mehr: Man kann eh nichts mitnehmen…

Man kann nichts mitnehmen… unsplash/Jametlene Reskp

Vor rund 15 Jahren [ – also Anfang der 2000er Jahre – ] besuchte mich eine gute Freundin. Ich zeigte ihr meine im Aufbau befindliche musikwissenschaftliche Bibliothek samt CD-Regalen (‚mein Kleinwagen‘) und Bergen von Musikkassetten, wies auf die unlängst gebauten Regalmeter – und erwähnte, dass auf dem Dachboden ebenfalls eine ganze Reihe von weiteren Kisten lagern würden.

Freundlich kommentierte sie meine Sammlung mit den Worten „Man kann nichts mitnehmen“ – und wenngleich wir vermutlich alle oftmals allzu beratungsresistent sind,  – für dieses eine Mal hatte sie mich ‚voll erwischt‘: Eine glatte 180°-Verschiebung der Perspektive in 3 Sekunden… Eine Erdrutsch-Erkennnis… Ein Wendepunkt.

Mit einem Satz war er entzaubert, der Glaubenssatz der Familie, dass man Bücher nicht wegschmeiße. Einige schwer zu beschaffenden Bücher übergab ich dem musikwissenschaftlichen Institut, ein paar wertvollere Sachen verscherbelte ich über Booklooker & Co, vieles landete auf dem Flohmarkt oder ging als Spende an Menschen, die sich für ein Projekt in Afrika ohnehin wöchentlich auf den Flohmarkt stellten – und der Rest gerann zu Altpapier.

Übrig blieben einzig die Bücher/CDs/Dinge, zu denen ich wirklich eine emotionale Beziehung hatte.

Es war eine einzige Befreiung, ein Akt der Katharsis für mich… Aktion um Aktion schwanden die Bestände. Ebenso wie das Anhäufen von Dingen (zunächst, beim Shopping) spannend sein und bereichernd wirken kann, vermag auch das Gegenteil diese Wirkung haben. Meine Seele fühlte sich mit jedem losgelassenen Gegenstand leichter. Es war wie abnehmen und dann beim Sport feststellen, dass jeder Sprung leichter fällt… Tatsächlich denke ich, dass Besitz beschweren kann – all diese Bücher ‚wollten‘ gelesen, die CDs gehört werden… es verbarg sich ein Anspruch dahinter, den ich kaum einlösen konnte.

Mit anderen, eigentlich mit allen Dingen ist es genauso: Was auch immer wir besitzen, es muss ausgesucht, bestellt/besorgt, bezahlt, aufgebaut, angebracht,  benutzt, gepflegt, sortiert, geordnet, weggepackt, abgestaubt, gewartet, wiedergefunden, repariert, verkauft oder entsorgt, und vielleicht ersetzt sowie evtl. versichert oder vertraglich verlängert werden (vgl. Schlenzig ‚wahre Kosten‘)1. Das sind eine Menge Handlungen, Zeit, Energie und Aufmerksamkeit, die da hinein gehen.

Und das bei jedem analogen/digitalen Gegenstand/Apparat/Gerät/App, den wir besitzen. Das bedeutet, diese genannten Aufmerksamkeits-Erfordernisse werden mit jedem angeschafften Ding multipliziert. Da kann schon einiges zusammenkommen. In der Tat kann hier die Frage aufkommen, ob wir den Besitz besitzen oder ob umgekehrt der Besitz gewissermaßen auch uns besitzt.

Besitz kann absurd werden. Sehr schön passt dazu der überlieferte Satz eines Technik-affinen Vaters eines Freundes: „Ruf mich mal auf Handy 5 an!“

Auf jeden Fall hat mich meine Sammlung eines: Abgelenkt von mir selbst. Wenn ich „in meiner Sammlung aufging“, brauchte ich mich nicht mit mir selbst beschäftigen. Dabei kann man „vor die Hunde gehen“…

In der neuen Wohnung drehten wir das Prinzip um. Fortan galt und gilt immernoch: Wir haben x Regale, es wird kein weiteres hinzugefügt/gebaut/angeschafft – und wenn neue Dinge hinzukommen, dann müssen alte Dinge weichen.

Wenige Dinge zu besitzen bedeutet wenige Folgekosten – sowohl finanzieller als auch zeitlicher/energetischer Art. Ergo sind wir in mehrerer Hinsicht freier ohne viel Besitz…

Und was wir als Familie gar nicht haben, sind: Auto-, Smartphone-, Heizungs-, Rasenmäher-, Popcornmaschinen-, Ferienhaus- und Zweitauto-Reparaturen. Auch der dazugehörige Papierkrieg: Fällt weg. Versicherungen für solche Dinge: Nope. Die Folgekosten: betragen 0 Euro. Ergo: Summe der gewonnenen Stunden pro Jahr: sehr viele.

Wenig Besitz bedeutet für uns noch etwas: Wir haben wenig zu verlieren.

Wenn wir den Lebensstandard sehr hoch, immer höher schrauben, sind unsere monatlichen finanziellen Belastungen entsprechend hoch und damit hängen wir dann in der Mühle, diese auch alle bezahlen zu müssen (‚pay our bills‘, wie es gefühlt in jedem zweiten US-Film heißt). Damit erwächst eine hohe Abhängigkeit vom Job, vom Fortgang der Karriere, vom ‚Weiter so’… das macht gefühlt viele Menschen passiv, unfrei und unzufrieden, also trösten sie sich per Shopping o.ä., gehen dafür finanzielle Verpflichtungen ein… und damit sind wir dann bei den LLL-Beiträgen

Besitzstand und Besitzstandswahrung sind Teil des Hamsterrades. Ich glaube, manche Menschen sind im Hamsterrad, um im Hamsterrad zu sein, denn dann sind sie zu dauerbeschäftigt, um über sich und das Leben nachzudenken, das könnte gefährlich sein für den ‚Status Quo‘. Den wer von ihnen erwartet?

Allein die Tatsache, dass wir nichts mitnehmen können (neudeutsch für: ‚Das letzte Hemd hat keine Taschen‘)  verdeutlicht, dass das Anhäufen von Dingen wenig sinnvoll ist. Dass das Leben mit Lebendigkeit zu tun hat – also nichts mit unbelebten Gegenständen. Weniger ist mehr. Gegenstände sind zeitlos (d.h. ohne Zeit, leblos, tot). Wir leben aber in der Zeit. Sie verrinnt – wir müssen unsere Zeit verbringen… Hm, wenn ich eine Stunde mit Freund x verbringe und er gleichzeitig eine Stunde mit mir verbringt… haben wir in einer Stunde zwei Stunden miteinander verbracht. Wow, das ist effektiv und vorallem: lebendig.

Marc Pendzich.

PS: Ein Freund von mir erzählte mir neulich von der Haushaltsauflösung eines verstorbenen Verwandten. Ein Akt der Traurigkeit. „Wer will das haben?“ – „Nee, nimm Du das mal.“ …Verkaufen? Geht nur mit einem Bruchteil. Und dann kommt der Entrümpler und sorgt innerhalb von Stunden dafür, dass das Leben zwangsweise: besenrein hinterlassen wird.

PPS: Eine Idee4u? Oftmals lasse ich mir mittlerweile nur noch ‚Zeit‘ schenken: Aktionen, gemeinsame Kinobesuche, Konzertkarten, kleine aber feine Events wie ein abendlicher Poetry Slam – und Dinge, die sich verbrauchen… oder Buffetbeiträge.

PPPS: Noch ne Idee: Zähl mal in Gedanken einem Menschen, den Du als Kind noch kennenlernen konntest (z.B. Deinem Ur-Großvater) Deinen Besitzstand auf.


Dieser Gedankengang erschien erstmals am 25. November 2017. Zuletzt geändert am 21. April 2022.


Quellen und Anmerkungen

Buchtipp:

Thema „Weniger ist mehr“.

Inspirations-, Motivations- und Strukturierhilfe zum Ausmisten – unabhängig davon, ob man nun unmittelbar an Feng Shui glauben mag oder nicht – spannend zu lesen:

  • Kingston, Karen (2004): Feng Shui gegen das Gerümpel des Alltags. rororo-Verlag.

In ihrem Sinne gehe ich manchmal durch die Wohnung und packe eine Kiste… schreibe ein Datum drauf. Und wenn ich mal wieder den Keller aufräume,  schaue ich mal, ob ich seitdem irgendetwas davon vermisst habe.

Jens Förster hatte deutlich mehr weg zu schmeissen als ich:

„Nach drei Tagen hatte ich ungefähr dreißig Sechzig-Liter-Säcke gefüllt. … Dazu gesellten sich ca. zwanzig Paar Schuhe und all die Bücher, die ich nie wieder lesen würde. Es ging mir immer besser. Am Ende der Woche beschloss ich, die Wohnung zu verkaufen. … Kein Mensch braucht drei Etagen für sich allein…“

Eine umfassende, teils m.E. schwer zu lesende jedoch lesenswerte psychologische Studie zum Thema „Kann man ohne materiellen Besitz glücklich sein“:

  • Förster, Jens (2015): Was das Haben mit dem Sein macht. Die neue Psychologie von Konsum und Verzicht. Plattloch Verlag.

Quellen/Fußnoten

1 Thema „Die wahren Kosten von Besitz“.

Dieser Gedankengang wurde deutlich inspiriert durch:

  • Schlenzig, Tim (2017): „Die wahren Kosten von Besitz“. 24.10.2017.  http://mymonk.de/wahre-kosten/ (Abrufdatum: 23.11.2017), wiederum inspiriert durch  https://www.theminimalists.com/cost/ und http://mnmlist.com/the-true-cost-of-stuff/


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