Normbiografie vs. innere Stimme – Aufschieben contra ‚Hier und Jetzt‘

Autofahrende HöherSchnellerWeiters haben es i.d.R. vergessen: Was könnte schöner sein als Schnee? – slow down – lebelieberlangsam (unsplash)

Tagtäglich feilen viele Bundesbürger:innen an ihrer ‚Normbiografie‘, an der Erfüllung eines Ideals, dass viele Menschen in Deutschland mit „zwei Einkommen, Ehe, zwei Kinder, ein Haus im Grünen, zwei Autos, regelmäßige Flugreisen“ umschreiben. Und als wäre das nicht schon ein übergroßes Gesamtpaket – es gilt ja auch noch in die Stadt pendelnd die Karriere weiter aufzubauen und ganz, ganz viel optimierten Freizeitspaß zu haben. Ok, ich pointiere.

Aber im Ernst: Wer obiges Programm geschafft hat, hat es nach eigener Ansicht geschafft, hat es geschafft auch in den Augen vieler Anderer – und ich fürchte, viele von denen die es auf diese Weise geschafft haben, sind dann auch geschafft.

Wozu das alles?

Wozu? – Wenn doch die innere Stimme oftmals gegen an wispert und etwas ganz anderes möchte?

Im Vergleich zum alltäglichen Lärm da draußen mag diese innere Stimme eher leise sein und so können wir sie durchaus überhören – aber es ist wie mit der Erderhitzung: Nur weil man etwas leugnet, ist es damit aber noch lange nicht weg. Und kommt wieder. Und das u.U. lauter, schmerzhafter und kräftiger denn je.

Das wissen wir. Theoretisch. Und vielleicht hat der eine oder andere sogar Bronnie Wares Buch Fünf Dinge, die Sterbende am meisten bereuen gelesen. Da steht das ebenfalls – überdeutlich! – drin.

Kernaussage Ware’s: Sehr viele Sterbende wünschten, in ihrem Leben die Prioritäten anders gesetzt zu haben: mehr und intensivere soziale Kontakte, mehr Mut die eigenen Bedürfnisse zu leben – und sie wünschten Beruf, Besitz und Geld weniger wichtig eingeschätzt zu haben.

Wir wissen es, die innere Stimme bestätigt es – und doch bleiben wir meist auf den ausgetretenen Pfaden. Wir vertrösten unsere Sehnsüchte, unsere Träume auf: später. Verschieben sie in die Zukunft. Immer wieder.

Ich glaube, ‚Aufschieben‘ ist eine verdammt schlechte Idee. Natürlich gehen Eltern kleiner Kinder weniger oft ins Kino, das ist eine Phase! – aber die eigenen Sehnsüchte, Bedürfnisse und Ideen immer, immer wieder und immer weiter in die Zukunft zu verfrachten ist eine riskante Taktik. Weil wir nicht wissen, was uns die Zukunft bringen wird.

Warum schieben wir dennoch auf?

Auf diese Frage gibt es sicher mehrere Antworten –

  • ’soziale Anerkennung‘,
  • die eigene Erziehung/Sozialisation und
  • gesellschaftliche Aspekte bis hin
  • zur tausendsten täglich unbewusst wahrgenommenen Plakatwand, die mit unseren Sehnsüchten spielt,

sind sicher Aspekte.

Aber eine weitere Antwort, warum wir die wirklichen Bedürfnisse aufschieben zugunsten der oben skizzierten Normbiografie, lautet: Weil wir uns absichern wollen. Viele von uns wollen: Sicherheit.

Ich habe eine schlechte Nachricht: Es gibt keine Sicherheit. Sie hat es nie gegeben, es gibt sie nicht, sie wird es niemals geben. Sicher ist einzig ist die Veränderung, dass nichts so bleibt, wie es ist. (s.a. LLL-Beitrag „Veränderung als einzige Konstante der Geschichte“)

Wir bekommen keine Garantien für gar nichts, weder für Gesundheit, Karriere noch Beziehung – wir können vernünftig und vorausschauend leben, aber sichern im eigentlichen Sinne können wir sie nicht:

  • Der sicherste Weg, seine Beziehung zu ruinieren, ist m.E. zu versuchen, dass sie immer genauso bleibt, wie sie gerade jetzt ist. Sie erstarrt – und finito.
  • Es gibt (abseits des Beamtentums) keinen sicheren Arbeitsplatz – egal wie viel Loyalität und Energie wir in die Firma einbringen, wenn die Zeiten sich ändern (!), wenn es hart auf hart kommt, wird man uns entlassen.

Das starke Sicherheitsbedürfnis gerade der Deutschen – ‚German Angst‘ – hat, wie der englische Ausdruck es nahelegt, tatsächlich etwas mit Ängsten zu tun. Und wie verstärkt man Ängste? Durch Rückzug und Vermeidungsverhalten, d.h. durch die „sichere Variante“ des (Nicht-)Handelns.

Sicherheit zu wählen verstärkt tendenziell Ängste und damit absurderweise die Unsicherheit. Irgendwann traut man sich aus seinem dreifach alarmgesicherten Haus u.U. gar nicht mehr raus.

Andersherum: Was ist die Standardbehandlung gegen Ängste? Herantasten an die angstmachende Situation, evtl. Konfrontation mit der angstauslösenden Situation, manchmal hilft nur der Sprung ins kalte Wasser. (Anmerkung: Dies ist kein medizinischer, sondern ein sagen wir: philosophischer Text!)

Wir haben nur die Gegenwart. Sicherheit ist ein Konzept, dass die Zukunft sichern soll – und das geht nicht. (Prinzipiell. Ähem, aber bitte nicht gleich morgen sämtliche Versicherungen kündigen – aber einige könnten bestimmt überdacht werden.)

Wenn es also eine wirkliche Sicherheit gar nicht gibt – wozu ihr dann nachjagen? Warum nicht lernen von den Aussagen von Bronnie Wares Patienten, die uns vorangehen und letztlich doch nur bestätigen, was unsere innere Stimme schon immer gewusst hat?

Es sind gewissermaßen doch eher gute Nachrichten, dass wir mit der ‚Sicherheit‘ nicht weiterkommen. Dann können wir diesen (durchaus verständlichen) Impuls fallen lassen – und das ermöglicht uns andere und mehr Handlungsgoptionen. Das gibt uns die Freiheit, die Dinge anders zu machen, die Freiheit, Dinge zu tun, auszuprobieren, Ideen zu folgen, Trial & Error zuzulassen, Scheitern zu dürfen – und vor allem: All diese Dinge JETZT zu machen und nichts/weniger aufzuschieben, in eine Zeit, von der man nicht weiß, ob sie jemals kommen wird, ob wir sie überhaupt noch erleben und wenn ja: unter welchen gesundheitlichen Umständen.

2raumwohnung textete mal, was Kästner auch schon wusste: „Das Leben ist lebensgefährlich.“

Das haben wir emotional vollständig zu akzeptieren. Dann können wir loslassen.

Marc Pendzich.


Dieser Gedankengang erschien erstmals am 10. Oktober Mai 2017. Zuletzt geändert am 21. April 2022.


Weiterer lebelieberlangsam-Artikel zum Thema:


Quellen und Anmerkungen

Manche Dinge las ich lieber quer, aber insgesamt auf jeden Fall erkenntnisreich:

  • Ware, Bronnie (2012): 5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen: Einsichten, die Ihr Leben verändern werden. Goldmann.

In die gleiche Richtung zielt Joachim Ringelnatz:

„Du weißt nicht mehr, wie Blumen duften,
Kennst  nur die Arbeit und das Schuften –
… so geh’n sie hin, die schönsten Jahre,
Am Ende liegst Du auf der Bahre
Und hinter dir , da grunst der Tod:
Kaputtgerackert – Vollidiot!“

(zitiert nach: Anselm Grün, Benediktpater, 2008, Vom Zauber der Muße, Kreuz-Verlag, S. 52.)


Lebensführung:

  • Wenn bereits ein kleiner ‚Anarchist‘ in Dir schlummert, weckst Du ihn garantiert mit:
    Tom Hodgkinson: Die Kunst, frei zu sein. Handbuch für ein schönes Leben. (2009).
  • Inspirierend, philosophisch, gut greifbar und entgegen des Titels m.E. nicht zu esoterisch:
    Sergio Bambaren. Lebe Deine Träume! Der Weg zu einem wahrhaft glücklichen Leben. 2016.

Zitat von 2Raumwohnung stammt aus:
Der letzte Abend auf der Welt (auf ‚Lasso‘, 2010)

  • Frank Berzbach verweist in seinem Buch „Die Kunst ein kreatives Leben zu führen.  Anregung zur Achtsamkeit“ (2013, S. 161) auf Erich Kästner, der mal bemerkte: „Leben ist immer lebensgefährlich“.

>> nächster Gedankengang: