Ich lebelieberlangsam.

slow down – lebelieberlangsam (unsplash)

Ich lebelieberlangsam.

Schnell- oder langsamleben – das ist eine Entscheidung von uns selbst, ähnlich der Wahl des Fortbewegungsmittels:

  • Fahren wir Fahrrad, nehmen wir die Pflanzenwelt am Wegesrand wahr, sehen Eichhörnchen den Baum raufkraxeln…
  • Oder nutzen wir lieber hunderte Pferdestärken, um uns quer durchs Land zu katapultieren? Dann bekommen wir allerdings nicht mal mehr mit, an welchen kleineren Ortschaften wir vorbeifahren…

Wenn wir uns für die ‚Überholspur des Lebens‘ entscheiden, wir also schnell leben – haben wir wirklich mehr davon? – und: Sparen wir so tatsächlich Zeit?

Ich melde Zweifel an.

  • ErLEBE ich mehr, erlebe ich mich stärker, wenn ich Zeit ’spare‘ und mehr ErLEBnisse und Dinge in mein Leben packe?
  • Ist es wirklich anzustreben, in diesem „Leben als letzte Gelegenheit“1 so viel wie möglich zu machen, zu erleben, so viel wie möglich reinzuquetschen, um alles herauszuholen, was geht?
  • Ist das das ‚Carpe diem‘, das Horaz 23 v. Chr. oder z.B. auch Henry David Thoreau (‚Walden‘) gemeint haben?

Ich glaube, es gibt heute zwei übliche Arten ‚Carpe diem‘ – ‚Nutze den Tag‘ – zu interpretieren:

  • Das Leben ist kurz. Nimm alles mit was Du kriegen kannst.
    oder
  • Das Leben ist kurz. Lebe diesen Tag wie Du ihn als den möglicherweise letzten verbringen würdest.

>> Ähem, würdest Du Dich an Deinen letzten Tag mit Geld verdienen sowie Ruhm- und Machtstreben beschäftigen?

Carpe diem… Ich gehe noch weiter und behaupte: Das Leben ist derart kurz, dass das Mitspielen auf dem ‚Spielfeld der unendlichen Möglichkeiten‘ so gar keine gute Idee ist. Wenn man ohnehin nicht alles mitnehmen kann, ist der Versuch: zum Scheitern verurteilt.

Und wie lange wir selbst überhaupt auf diesem Spielfeld stehen werden, wissen wir nicht.

Lebenszeit ist in meinen Augen also noch viel knapper bemessen, als – so denke ich – die meisten Menschen glauben und erhoffen.

Damit möchte ich keinerlei Fatalismus verbreiten. Daraus folgt keineswegs, dass man die Füße hochlegen sollte. Oder in Depressionen zu versinken.

Das bedeutet lediglich, dass wir loslassen können. Und sollten. Unser eigenes Ding machen sollen, also das, was uns persönlich wirklich wichtig ist. Damit wir uns eines Tages bei einer Art ‚Lebensbilanz‘ eben nicht fragen müssen, in was für unsägliche Nebensächlichkeiten wir uns verstrickt haben, warum wir so vieles aufgeschoben haben, warum wir uns derart auf eine Karriere fokussiert haben (bevor wir mit Anfang 50 von heute auf morgen outgesourced wurden), anstatt Qualitätszeit mit unseren Kindern oder mit unserem Inner Circle der Freund:innen zu verbringen.

Wer immer beschäftigt ist, seinen Tag zuballert, spürt nicht, wie die Zeit vergeht (produktive Ausnahme: Flow). Wenn wir die Zeit nicht spüren, nehmen wir unser Leben nicht wahr. Und dann wissen wir nicht, wo die Jahre geblieben sind.

Sicher, es gibt Situationen, in denen geht es gar nicht anders. Das ist normal, aber es liegt an uns, diese ‚zeitlose Zeit‘ als solche zu reflektieren, zu begrenzen und dann wieder zu uns selbst zurückzukehren.

LebeLieberLangsam bedeutet für mich, die (eigene) Zeit wahrzunehmen, sich zu spüren, sich wichtig zu nehmen – achtsam zu sein, im Jetzt zu leben und sich vor allem nicht durch die sirenenartigen HöherSchnellerWeiter-Lockrufe der glamourös-schimmernden Produktpallette des Bedarfsweckungskapitalismus vom eigenen Weg abbringen zu lassen.

Marc Pendzich.


Dieser Gedankengang erschien erstmals am 24. Mai 2017. Zuletzt geändert am 21. April 2022.


Quellen und Anmerkungen

1 Mehr über den Gedanken vom ‚Leben als letzte Gelegenheit‘, weil es eine „Jenseits-Hoffnung“ weniger denn je gäbe, in:

  • Schnabel, Ulrich (2010): Muße. Vom Glück des Nichtstuns. Blessing, S. 193.


>> Ulrich Schnabel bezieht sich bei diesem Gedankengang in seinem Buch auf:

  • Gronemeyer, Marianne (1996): Das Leben als letzte Gelegenheit. Sicherheitsbedürfnisse und Zeitknappheit. Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Darmstadt.  

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