Hybris vs Hygge / Hygge contra Hybris

slow down – lebelieberlangsam (unsplash)

Ich liebe diese Überschrift.

‚Hybris‘ meint das zweifellos übertriebene Leben, das wir mehrheitlich führen in der westlichen Welt, das HöherSchnellerWeiter. Das Leben, in das alles hineingestopft wird per Freizeitevent, Konsum, Optimierung, Verdichtung und Beschleunigung. Gemeint ist der Versuch, aus diesem einzigen Leben, das wir haben, alles herauszuholen.

Das dänische Wort ‚Hygge‘ umschreibt hingegen ein ungleich zurückhaltenderes, selbstgenügsameres Leben. Konkret meint Hygge den Zustand des bewussten, runterfahrenden, niedrigschwelligen, wertschätzenden Miteinander-Abhängens z.B. bei Kerzenschein und Tee, des Palaverns mit Freund:innen, ohne zu tief in konfliktreiche (z.B. politische) Themen einzusteigen – und beschreibt letztlich das Streben nach freier Zeit (Freizeit) und Zeit-Erleben (allein oder mit Vertrauten) ohne großen materiellen oder organisatorischen Aufwand.

Doch zunächst zurück auf die ‚Überholspur‘:

Das Lebenstil-Modell ‚Hybris‘ funktioniert nicht. Für uns selbst nicht. Für die Menschheit nicht und für den Planeten erst recht nicht.

  • Für uns selbst als Individuum funktioniert es nicht, weil der Versuch, alles in dieses Leben hineinzupacken letztlich bedeutet, dass es gefühlt verdammt schnell zu Ende ist, weil wir gar nicht mitbekommen, wie die Zeit vergeht. (Manchmal zeigt schon die Sprache, was Sache ist: Zeit vergeht im beschleunigten Modus ‚wie im Flug‘.)
    Hybris, also: HöherSchnellerWeiter ist unsere unreflektierte Antwort darauf, dass das Leben begrenzt und kurz ist. Aber nur deshalb, weil wir ignorieren, nicht wirklich kapieren (reflektieren), wie kurz und zerbrechlich das Leben wirklich ist. Was sind 80 Jahre? Wohlgemerkt 80 Jahre, wenn es gut läuft und die uns keiner garantiert. Wenn wir die Zerbrechlichkeit des Lebens tatsächlich vollständig verstehen würden, wären Karriere, Geld und Materielles für die meisten von uns m.E. nahezu bedeutungslos, zumindest nur noch Mittel zum Zweck: zum Leben.
  • Das Lebensmodell ‚Hybris‘ funktioniert für die Menschheit und diesen Planeten (Klima, Biodiversität, Mitwelt) nicht, weil wir Angehörige der Industrienationen schlicht für unser persönliches Leben zu viel Energien und Ressourcen einsetzen – weit mehr, als uns zustehen. Daher ist Hybris in Wirklichkeit zutiefst egoistisch – und bei nicht wenigen von uns: egomanisch. Diese Hybris ist für uns m.E. überhaupt nur auszuhalten, weil wir die Augen ganz, ganz fest (wie kleine Kinder!) davor verschließen, was wir da eigentlich tun: Wir leben zutiefst auf Kosten der kommenden Generationen (und damit auch auf Kosten unserer eigenen Kinder und Enkel:innen) sowie massivst auf Kosten der Menschen außerhalb des Speckgürtels namens ‚Westen‘.

Wir leben Hybris, weil es Freund:innen, Kolleg:innen, Nachbar:innen auch tun – warum sollten wir uns da, als Einzelne:r, ja, als vermeintlich Einzige:r zurücknehmen? Wir würden uns ja quasi ins eigene Bein schießen, denn Reisen, das Zweitauto, Hausbesitz, Konsum, Materielles erhöhen oberflächlich betrachtet unser Selbstbewusstsein, unser Prestige und somit unseren ‚Marktwert‘ (? …OMG!).

Hybris ist – wenn man es genau nimmt – eigentlich kollektiver Größenwahn. Um 1900 waren Hunger und Armut für viele Menschen in Mitteleuropa auch abseits von Kriegszeiten bedrückende Normalität. Die:der Durchschnittsbürger:in hatte einen Reise-Radius von wenigen Kilometern, die Lebenserwartung lag in Deutschland zur vorangegangenen Jahrhundertwende bei etwa 50 Jahren, die Ehe war grundlegend auch eine Art Vorsorgeversicherung, Kinder kamen einfach, und so Mancher bekam seinen einzigen Mantel von seinem Vater vererbt. Ach ja, und eine Entzündung endete allzuoft tödlich, Deos gab es nicht und der Zahnarzt war manchmal gleichzeitig auch der Dorfschmied. Plakativ ja, aber falsch? Nein.

Angesichts dieser nur wenige Generationen zurückliegenden Realität:

Wie sehr müssten wir Westler:innen uns eigentlich täglich gratulieren und ernsthaft! vor Freude wie kleine Kinder hopsen, weil wir heutzutage mehr als ausreichend über Lebensmittel, Kleidung, Gesundheitsversorgung, Demokratie, Rechtssicherheit, soziale Absicherung sowie über historisch ungekannte Freiheit verfügen?

slow down – lebelieberlangsam (unsplash)

>> Im Handbuch Klimakrise habe ich diesen Gedanken weiter ausgeführt, siehe rechts das klickbare Bild sowie gleich oben im Handbuch-Abschnitt Fliegen, Kreuzfahrten

Aber wir gewöhnen uns an Standards – fast egal in welcher ‚Höhe‘ – und bekommen den Hals nicht voll. Wir ignorieren das ‚menschliche Maß‘ – und das ist: Hybris.

Es geht keineswegs darum, Wohlstand zu verachten.

oder gar darum ‚auf die Bäume zurückzuwollen‘, wie das Stammtischrunden progressiven Menschen gern mal unterstellen.
PS: Bäume würde es dann übrigens gar nicht mehr geben, wenn wir Eurer No-Future-Dystopie namens ‚Weiter so‘ folgten.

Aber zwischen Wohlstand (in etwa: das menschliche Maß) und Überfluss (=Hybris) liegt eine rote Linie, die zweifellos überschritten ist, wenn die „europäische Partymetropole [Berlin seit Anfang der 2000er Jahre regelmäßig] Wochenende für Wochenende von geschätzten 10.000 Billigflugtouristen heimgesucht wird… weil hier ein vermeintlich besserer DJ auflegt als in Madrid, Tel Aviv, New York, Stockholm…“ (Paech 2012, 52).

Es kann gar nicht deutlich genug gesagt werden:

Ein Recht auf grenzenloses Leben, d.h. auf ein Leben mit schrankenlosem Ressourcen- und Energieverbrauch, gibt es nicht.

Was es hingegen gibt: Naturgesetzliche planetare (Belastungs-)Grenzen.

Hygge steht für die Balance, die wir zu halten haben.

Im Interesse alles Lebendigen, der gesamten Menschheit, unserer Nachkommen – und auch im Interesse von uns selbst. Und letzteres gilt auch abseits der großen Verantwortung, die wir für künftige Generationen tragen: Denn die Ironie besteht ja darin, dass wir [z.B. in Deutschland] mit unserer Hybris letztlich i.d.R. alles andere als glücklich und zufrieden sind – und im Unterschied dazu z.B. die Dän:innen mit ihrem Hygge-Lebensverständnis auf dem ‚Glücksindex‘ (des World Happiness Report) global ganz weit vorne stehen.

Mehr Hygge täte uns allen gut.

Und was sind am Ende des Lebens, wenn wir Bilanz ziehen, die Hybris-Aspekte noch wert?

  • Das Drittauto, mit dem wir erstaunlicherweise genauso im Stau stehen wie mit den anderen beiden SUVs, die gerade in der Garage stehen?
  • Das Jetset-Leben mit sog. Freund:innen, die uns nur so lange kennen mögen, wie wir mithalten bzw. sie in ihrem Lebensentwurf bestätigen?
  • Die Berge von Klamotten in unserem Schrank, die wir nur genau einmal, zur Anprobe anhatten?
  • Das Haus, in dem wir keine Zeit für unsere Kinder hatten, weil wir zu oft erst bei Dunkelheit zum Gute-Nacht-Sagen nach Hause kamen?

Nun, wenn wir z.B. den Aussagen des Buches „Fünf Dinge, die Sterbende am meisten bereuen“ folgen:

Nichts.

Marc Pendzich.


Joachim Ringelnatz:

„Du weißt nicht mehr, wie Blumen duften,
Kennst nur die Arbeit und das Schuften –
… so geh’n sie hin, die schönsten Jahre,
Am Ende liegst Du auf der Bahre
Und hinter dir, da grinst der Tod:
Kaputtgerackert – Vollidiot!“


Dieser Gedankengang erschien erstmals am 19. September 2017. Zuletzt geändert am 21. April 2022.


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Quellen und Anmerkungen
  • Quelle ‚Lebenserwartung in Deutschland um 1900‘: http://www.berlin-institut.org/newsletter/Newsletter_13_09_2006.html (Abrufdatum 19.7.2017)
  • Den Begriff Hybris entnehme ich dem teilweise streitbaren Buch
    • Miegel, Meinhard (2014): Hybris. Die überforderte Gesellschaft. List.
  • Sehr zu empfehlen ist m.E. Niko Paechs Sinn für das ‚menschliche Maß‘:
    • Paech, Niko (2012): Befreiung vom Überfluss. oekom. S. 52
      • Er verweist hier auf Tobias Rapp, der von ‚Easyjetravellern‘ spricht: In diesem Club „sind 3.000 Leute. Gut die Hälfte davon ist extra aus Tel Aviv, Manchester, Barcelona oder sonst woher angereist. Und die meisten von diesen 1.500 Leuten sind extra deshalb hergeflogen“, vgl. Tobias Rapp: Lost and Sound. Berlin, Techno und der Easyjet, 2009, S. 88.
  • Manche Dinge (- vor allem die persönliche Biografie Bronnie Wares‘ betreffend -) las ich lieber quer, aber in den Kernelementen sehr erkenntnisreich:
    • Ware, Bronnie (2012): 5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen: Einsichten, die Ihr Leben verändern werden. Goldmann.
  • Joachim Ringelnatz zitiert nach: Anselm Grün, Benediktpater, 2008, Vom Zauber der Muße, Kreuz-Verlag, S. 52.

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