Veränderung als einzige Konstante der Geschichte

Vor ein paar Jahren hätte sich dieser Mann mutmaßlich nicht vorstellen können, mal mit einem Pappschild um den Hals bei einer FFF-Demo zu demonstrieren: Die einzige Konstante im Leben ist: Veränderung. – unsplash –

In Diskussionen mit meinen Mitmenschen, bei Partygesprächen und beim Scannen des virtuellen Blätterwaldes bin ich immer wieder aufs Neue überrascht, für wie alternativlos und unvermeidbar die meisten Menschen das derzeitige Ökonomie-, Gesellschafts- und Finanzsystem, ja, sogar die existenzielle Ökokrise (Klima/Massenaussterben) halten.
Und das, obwohl wir den Ast, auf dem wir sitzen, bereits halb durchgesägt haben und das Weiter-So die schlechteste aller Varianten darstellt.

Dass eine Welt ohne Mehr-Mehrverbrauch, Steigergungslogiken und Finanzialismus (und ohne persönliches Hamsterrad) möglich sein könnte, scheint vielen Menschen offensichtlich nicht einmal denkbar.

Der Soziologe Hartmut Rosa zielt in die gleiche Richtung, wenn er sagt:

  • „Das Erstaunlichste unserer modernen Gesellschaft ist, dass es uns viel leichter fällt, uns das Ende der Welt auszumalen als eine Alternative zu unserem herrschenden ökonomischen, politischen und kulturellen System. … Und es ist auch nicht so, dass es keine Alternativideen gäbe … aber es gibt momentan scheinbar keine [Idee], die uns kollektiv zu packen vermag und einer Mehrheit auch plausibel vorkommt. Vielleicht liegt unser Problem darin, dass wir zu schnell eine Antwort wollen. … Unser Problem liegt darin, dass wir die richtigen und wichtigen Fragen gar nicht mehr stellen“ (in: Opitz 2011, 253f.)

Und:

  • „Ich glaube, dass uns wahrscheinlich nichts einfallen wird, solange wir uns in diesem Hamsterrad befinden, weil wir völlig damit beschäftigt sind, unsere gesamten Energien dafür gebunden sind, die Wachstumsbeschleunigung voranzutreiben, also das Rad am Laufen zu halten.“ (in: Opitz 2011, 253)

Naomi Klein beleuchtet den gleichen Sachverhalt aus einem etwas anderem Blickwinkel in der Klimakrisen-Filmdokumentation This Changes Everything. Klein geht davon aus, dass viele Menschen sich die Möglichkeit der Veränderung in Sachen Steigerungslogiken/Mehrverbrauch/Finanzialismus/Globalisierung/Ökokrise nicht vorstellen können, weil sie annehmen, dass diese Systeme/Faktoren mit der Kurzsichtigkeit des Menschen zu begründen seien, somit in der Natur des Menschen lägen und demzufolge nicht zu ändern seien:

  • „We’re told that the cause is … in us. It’s human nature. … and if that’s true, there ist no hope [for us, the earth, the clima].“

Aber sie fährt fort:

  • But … what, if human nature isn’t the problem?… what, if the real problem is a story, one, we’ve been telling ourselves for 400 years? … Here’s how [the story] goes: The earth is not, as most people thought back then, a mother to be feared and revered [=verehrt].
  • No. [In the 17th Century,] Science had granted men  godlike powers. [They invented the idea:] The earth is a machine and we’re are its engineers, its masters. We can sculpt it like a country garden. We can extract from it whatever we want. These scientists helped turn the mother into the mother lode [=Rohstoffquelle]. This story is where the long road to global warming began.
  • [But:] Unlike human nature, stories are something we can change.“ (Klein, Naomi 2015, s.u.)

Fazit: Uns wurde jahrhundertelang eingetrichtert, dass wir die „Masters“ der Erde seien und sie als solche  bedenkenlos ausbeuten könnten. Doch diese Story sei – und ich schließe mich Naomi Klein hier unbedingt an – ein Irrglauben: Wir sind vielmehr Teil der Erde – wir sind lediglich Gäste, die man auch rausschmeissen kann, wenn sie sich daneben benehmen.

Mit Naomi Klein gedacht stecken wir also tief in dieser von Generation zu Generation weitergereichten „Story“ und im Zeitgeist, so tief, dass wir uns gar nicht vorstellen können, dass Alternativen zu unserer Gesellschaft und zu unserem Ökonomiesystem möglich wären, das alles auch ganz anders sein könnte.

Natürlich könnte es anders sein.

Alles könnte immer auch anders sein.

Es ist sogar offensichtlich: Wir Menschen sind ultra-flexibel, wie ein Blick in die Geschichte der Menschheit sowie in verschiedene frühere und heutige indigene Kulturen zeigt.

Und in der Menschheitsgeschichte kam es immer wieder große Veränderungen, Umwertungen, Neuerungen und Umwälzungen. Rückblickend kommen uns die Dinge, die passiert sind, oft plausibel und zwangsläufig vor. Tatsächlich konnten viele Menschen diese kommenden kleinen und großen „Revolutionen“ – selbst kurz vorher – sich mutmaßlich nicht ausmalen:

  • Konnte sich zur Zeit der Pyramiden eine Ägypterin inmitten des sich auf dem Höhepunkt seiner Macht und Stabilität befindlichen ägyptischen Reiches vorstellen, dass die ganze Kultur eines Tages vergehen würde?
  • Konnten sich mittelalterliche Kleinbauern vorstellen, dass ihre Nachfahren frei sein würden?
    • Dass „Geld“ das hauptsächliche Tauschmedium sein würde?
    • Dass es irgendwann gesellschaftlich „angesehen“ sein könnte, reich zu sein? (Im Mittelalter war „Reichsein“ verpönt.)
  • Hätte eine Franzosin 10 Jahre vor der französischen Revolution glauben können, dass die Belange seiner Landsleute in einem Parlament entschieden würden?
  • Konnten sich Menschen um 1900 vorstellen, dass 150 Jahre später Städte komplett Auto-dominiert sein und der Fußgänger zur auf den Bürgersteig verbannten „Randerscheinung“ geriete?
    • Dass aus Doppeldeckerflugzeugen, die allzu hart aufschlugen, Großraumflugzeuge würden, in die wir uns (was unser persönliches Überleben betrifft) quasi bedenkenlos hineinsetzen können?
  • Wer hätte einen Tag vor Gorbatschows Amtsantritt 1985 auch nur einen Pfennig darauf gewettet, dass Deutschland jemals wiedervereinigt würde?
  • Und: Als wir „Kids der 70er“ Ende der 1980er Jahre „Miami Vice“ schauten – hätten wir damit gerechnet, dass wir – wie die beiden Cops – kollektiv mit Handys/Smartphones durch die Gegend rennen würden und dabei unser gesamtes Kommunikartionsverhalten revolutioniert werden würde?

Ergo: Die Geschichte lehrt, dass dann und wann immer mal wieder große Umschwünge aller Art stattfanden.

Warum sollte das heute und auch zukünftig anders sein?

Ist es nicht sogar geradezu anmaßend, anzunehmen, dass die Geschichte/Geschichtsschreibung – meinetwegen „die Entwicklung“ – mit unserer Generation hinsichtlich Gesellschaft und politischem sowie wirtschaftlichem System an ein Ende gekommen sei?

Das ist schlicht und einfach Quatsch und hat eine Menge damit zu tun, dass wir – obwohl wir so viel „entwickelt“ haben – weiterhin nicht in die Zukunft blicken können.

Übrigens: In Wirklichkeit bleibt nie etwas gleich. Die einzige wirkliche Konstante der Geschichte (und auch Deines Lebens!) ist: Die Veränderung.

Wer weiß, vielleicht sind wir alle morgen? übermorgen? in 10 Jahren? überrascht, dass uns – Dich und mich – die Geschichte rechts überholt hat und wir Bürger:innen allesamt über ein Grundrecht auf angstfreie Daseinsvorsorge verfügen. Dass kaum noch private Pkws auf den Straßen fahren. Dass es ein indivuelles, nicht veräußerbares CO2– und Ressourcenbudget gibt. Dass wir mehr Zeit fürs Wesentliche haben und dem Hamsterrad des Dringlichkeitskults entkommen sind. Und Zeit haben. Für uns. Selbst.

Marc Pendzich.

PS:
Der Spiegel-Autor Christian Stöcker bezeichnet die angebliche Nicht-Veränderbarkeit des Status quo  als

  • „die nachhaltigste Lüge all jener, die sich mit dem menschengemachten Klimawandel lieber nicht auseinandersetzen wollen“ (2017).

Diese Lüge (=Teilaspekt von Klein’s ‚Story‘) lautet:

  • „Das ist doch alles viel zu teuer. Aus der Kohleverstromung aussteigen, Alternativen zum Verbrennungsmotor finden, Industrie-Produktion CO2-neutral gestalten…“

Stöcker geht im gleichen Artikel noch weiter und zeigt, weshalb die Mär von den „Mehrkosten“ (ha!: Märkosten!) nicht nur unwahr sei, sondern vielmehr umgekehrt sogar das Gegenteil richtig sei: Es sei erwiesen, dass es wesentlich teurer ist, an den alten Techniken festzuhalten.

PPS: Nelson Mandela wird der folgende Satz zugeschrieben:

  • „Es erscheint immer unmöglich, bis es vollbracht ist.“

In einer bundesdeutschen Lebensumgebung, die von der mentalen Beamten-Mikado-Doktrin „Wer sich bewegt hat verloren“-Weiter-so-„Was nicht geht, geht nicht“ beherrscht zu sein scheint, ist das ein in meinen Augen extrem wohltuender Satz.

>> s.a. https://leitlinien4future.de/


Dieser Gedankengang erschien erstmals am 3. Oktober 2017. Zuletzt geändert am 21. April 2022.


Quellen und Anmerkungen

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